In einer Welt begrenzter Ressourcen und wachsender Bevölkerung steht die Nutztierhaltung vor einem grundlegenden Wandel. Als Treiber von Umweltbelastungen, vermeidbarem Tierleid und globaler Ernährungskonkurrenz verursacht sie erhebliche externe Kosten, die bislang kaum internalisiert werden. Doch wie könnte eine Tierhaltung aussehen, die wirklich zukunftsfähig ist?
Tiere als ökologische und soziale Akteure
In der multifunktionalen Nutztierhaltung (MFT) wird auf die Maximierung tierischer Produkte – Fleisch, Milch und Eier – verzichtet. Stattdessen werden die Tiere in naturnahen Haltungssystemen gehalten, um auch ökologische und soziale Funktionen zu übernehmen: Sie verwerten Grasland und Nebenprodukte der Lebensmittelverarbeitung, tragen zum Erhalt von Ökosystemen und Biodiversität bei, sichern über alte Nutztierrassen genetische Vielfalt und stärken regionale Wertschöpfung.
Durch die vollständige Integration in agrarische Kreisläufe – ergänzt durch angepasste Anbau- und Nutzungskonzepte, die auf die Verfütterung menschlich verwertbarer Pflanzen verzichten – steigert die MFT die Gesamteffizienz des Ernährungssystems. Ziel ist nicht die Erhöhung einzelner Produktionsmengen, sondern die Förderung gesellschaftlicher Wohlfahrt, die Reduktion fossiler Energienutzung und die Stärkung ökologischer Resilienz – stets im Einklang mit den natürlichen Bedürfnissen der Tiere und den planetaren Belastungsgrenzen.
Nachhaltigkeit messbar machen
Die natürlichen Funktionen von Nutztieren lassen sich als Indikatoren für die Nachhaltigkeit eines landwirtschaftlichen Systems nutzen. Je mehr Funktionen ein Tier übernimmt – von Landschaftspflege bis Nährstoffkreislauf –, desto höher ist das Nachhaltigkeitspotenzial der Haltung. Dies ermöglicht auch Konsumenten, tierische Produkte und die zugrundeliegenden Produktionsmethoden differenzierter zu bewerten und reflektierte Kaufentscheidungen zu treffen.
Kreislaufwirtschaft statt Nahrungskonkurrenz
Ein nachhaltiges Ernährungssystem muss Ressourcen effizient und zielgerichtet einsetzen. Die multifunktionale Nutztierhaltung vermeidet Lebensmittelverschwendung durch eine konsequente Einhaltung der Verwertungshierarchie – bekannt als «Teller, Trog, Tank», d. h. menschliche Ernährung, Tierfutter, Energiegewinnung. Demnach werden Tiere ausschliesslich mit Futtermitteln versorgt, die für den Menschen nicht direkt nutzbar sind – etwa Gras, Kleegras aus notwendigen Fruchtfolgen zur Bodengesundung, Nebenprodukte der Lebensmittelverarbeitung, abgelaufene Lebensmittel oder Essensreste. Die verfügbare Menge dieser Ressourcen begrenzt die Tierzahl auf natürliche Weise und definiert somit das nachhaltige Produktionspotenzial – ein grundlegender Unterschied zur konventionellen Praxis, in der Tierhaltung häufig losgelöst von systemischen Grenzen betrieben wird.
Obwohl der Grossteil heutiger Futtermittel als nicht direkt essbar gilt, bleibt das Potenzial einer effizienteren Flächennutzung oft ungenutzt. In vielen konventionellen Systemen könnten Ackerflächen, die heute für Tierfutter genutzt werden, auch für den Anbau von Kulturen für den menschlichen Verzehr, als Grünland mit positiven Effekten für Kohlenstoffspeicherung und Biodiversität oder zur Wiederherstellung naturnaher Ökosysteme geeignet sein. Weniger ertragreiche Standorte könnten für anspruchslose, aber ernährungsphysiologisch wertvolle Kulturen wie Buchweizen, Hirse oder Hafer genutzt werden. Auch nicht backfähiger Weizen oder qualitativ schwankende Partien lassen sich durch innovative Verarbeitung und gezielte Produktentwicklung sinnvoll verwerten. Um dieses Potenzial zu erschliessen, braucht es neue Ansätze in Lebensmitteltechnologie, Verarbeitung und Handel sowie ein Umdenken im Konsumverhalten und passende politische Rahmenbedingungen.
Bedarfsgerechte Tierhaltung statt Überproduktion
Die Begrenzung der Tierzahlen durch Flächenbindung reduziert das Risiko von Überproduktion und trägt zur Reduktion von Umweltbelastungen bei. Als zweite Produktionsgrenze orientiert sich die MFT am tatsächlichen ernährungsphysiologischen Bedarf. Auf diese Weise fördert sie eine Ernährung mit höherem pflanzlichen Anteil und gesundheitlichen Vorteilen.
Im Zentrum der MFT steht das Tier als Mitgeschöpf. Das Tierwohl ist ein integraler Bestandteil des Systems statt einer ökonomisch motivierten Pflicht. Die Haltung orientiert sich konsequent an den natürlichen Bedürfnissen der Tiere – Weidegang, Bewegung, Sozialverhalten und arteigene Lebensräume sind grundlegende Voraussetzungen. Gesunde Tiere benötigen weniger medizinische Versorgung. Dies ist ein Vorteil für Tier, Umwelt und Produktqualität.
Regionale Strukturen und wirtschaftliche Rahmenbedingungen
Eine multifunktionale, flächengebundene Tierhaltung ist auf regionale Strukturen angewiesen: dezentrale Verarbeitungskapazitäten, kurze Transportwege und geeignete Anreizsysteme. Derzeit fehlen diese Voraussetzungen in vielen Regionen. Parallel sind Anpassungen in Marktmechanismen, Förderinstrumenten und Konsumverhalten erforderlich. Alternative Kulturen und tierische Produkte aus MFT brauchen verlässliche Absatzmärkte. Durch die Stellung der Landwirtschaft am Anfang der Wertschöpfungskette und ein unelastisches Angebot benötigt es Planungssicherheit und faire Preise.
Fazit – Systemische Synergien nutzen
Die Multifunktionalität von Systemen und Flächen kann durch die Integration von Tierhaltung in vielfältige Anbausysteme – etwa Agroforst oder Mischkulturen – zusätzlich gesteigert werden. Dadurch lassen sich Synergien zwischen Pflanzenbau, Tierhaltung, Landschaftspflege und Kohlenstoffspeicherung gezielt nutzen. Diese systemischen Ansätze erhöhen die Resilienz der Landwirtschaft, steigern die Flächeneffizienz und verbessern gleichzeitig den ökologischen Zustand von Böden, Wasserhaushalt und Biodiversität. Sie sind damit ein zentrales Element eines Ernährungssystems der Zukunft.
Die multifunktionale Nutztierhaltung ist ein realistisch umsetzbares Konzept für eine zukunftsfähige Landwirtschaft. Sie verbindet eine ressourcenschonende, bedarfsdeckende Produktion mit hohem Tierwohl, fördert die Biodiversität, schützt die Umwelt und erfüllt gesellschaftliche Anforderungen an eine ethisch vertretbare Tierhaltung. Indem Tiere ökologische und soziale Aufgaben übernehmen, wird Tierhaltung wieder zu einem wertvollen Bestandteil landwirtschaftlicher Systeme – im Einklang mit den natürlichen Grundlagen und den Bedürfnissen der Gesellschaft. Auf diese Weise kann sie einen entscheidenden Beitrag zu einem gerechteren, nachhaltigeren und krisenfesteren Ernährungssystem leisten.
BioThesis
Die Preisverleihung der BioThesis findet jährlich auf der Weltleitmesse für Bio-Lebensmittel – BIOFACH (10. bis zum 13. Februar 2026) in Nürnberg statt. Einsendeschluss ist der 15.10.2025 (Kontakt und Fragen: info@BioThesis.org)